DAS LAND UTOPIA IM VERLASSENEN INDUSTRIEAREAL

Begehbares Kunstwerk und Blaupause für Zwischennutzung

KAStA // von: Helmut Frangenberg // 16.06.2016

Wo einst die Zentrale eines Weltkonzerns arbeitete, auf dem ehemaligen KHD-Gelände in Mülheim, inszenieren Anja Kolacek und Marc Leßle ihre Kunst – eine Blaupause für die Zwischennutzung verlassener Industrie- und Verwaltungsgebäude, die auf neue Perspektiven warten. Die Künstler leisten einen Beitrag zur Stadtentwicklung, aber die Stadt weiß noch nicht so recht, wie sie das würdigen soll.

Kleines Ladenlokal in der Innenstadt gesucht, kolossalen Backsteinbau mit rund 30 000 Quadratmetern gefunden – so beginnt die Geschichte von Anja Kolacek und Marc Leßle in der verlassenen Hauptverwaltung von Klöckner-Humboldt-Deutz. Die Tänzerin und der Bühnen- und Lichtgestalter waren dabei, in einer Halle an der Mülheimer Schanzenstraße ihre Zelte abzubrechen, wo sie das Interim des Tanzhauses Köln organisiert hatten, als ihnen der Eigentümer eine neue Bleibe anbot. Ein Ladenlokal habe er nicht, wohl aber die verlassene KHD-Zentrale. „Ich kannte die Gegend garnicht“, erinnert sich Leßle an den Moment, als er erstmals vor dem riesigen Gebäude an der Deutz- Mülheimer-Straße stand. „Fasziniert“ seien sie gewesen von diesem historischen Ort für ihr Kunstprojekt „Raum 13“. Man habe gespürt, wie viel Leben in dem Kasten mal gewesen war. Gleichzeitig sei der erste Ortstermin aber auch ein Schock gewesen: Das Haus war voller Müll, Schrott und Zerstörung, dazu überall der Inhalt geleerter Feuerlöscher. „Da wussten wir, das wird ganz viel Arbeit.“ Nach kurzer Bedenkzeit und unkomplizierten Verhandlungen mit dem Eigentümer des dreistöckigen Komplexes vor verfallenen Produktionshallen zogen sie im März 2011 ein. Nur drei Monate später öffneten die Künstler erstmals die Türen ihres „begehbaren Kunstobjekts“ für Publikum: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter“, hieß es vielsagend in Anlehnung an Lessings Klassiker „Nathan, der Weise“. Tatsächlich wohnten hier neben den Göttern auch Obdachlose und heroinspritzende Junkies. Jugendliche feierten wilde Partys im „rotten place“. Und ab und zu kamen organisierte Kupferdiebe vorbei. „Am Anfang haben wir mit Schlagstöcken auf Matratzen gelegen, um unsere Sachen zu bewachen“, erinnert sich Anja Kolacek an die Wochen, bevor sie alle Zu – und Ausgänge des Komplexes einigermaßen gesichert hatten. Über 30 Uraufführungen und Premieren, sowie zahlreiche Kunst-Aktionen später, ist das Gebäude auch nach fünf Jahren immer wieder für unangenehme Überraschungen gut. „Immer, wenn man die Tür aufschließt, kann sich etwas verändert haben“, so Leßle. Konzeptionell lässt sich das durchaus mit der Idee von „Raum 13“ verbinden. Die Kunst sei schließlich ein anhaltender Prozess von Veränderungen. Praktisch kann das aber auch zur „nervigen Dauerbelastung“ werden, wenn wieder einmal Scheiben eingeschmissen oder Dinge zerstört wurden. „Es gab Phasen, da hatten wir keinen Bock mehr.“ Es ist nicht einfach zu beschreiben, was die beiden 47-Jährigen in ihrem „Zentralwerk der Schönen Künste“ machen. Man muss es sich anschauen.

Als Künstler haben sie sich jedem Schubladendenken entzogen: Installationen, Theater, Tanz, Fotografie, Film, Musik – alles verbindet sich sowohl miteinander wie auch mit den vielen ehemaligen Büro- und Konferenzräumen, in denen der Großbetrieb KHD einst das Personal verwaltete und weltweit Geschäfte organisierte. Man kann sich selten sicher sein, ob man Umgestaltetes, Verfremdetes, Rekonstruiertes, völlig Neues oder Übriggebliebenes in den Räumen sieht. Doch auch jenseits von Kunst und Raum verschwimmen die Grenzen: Leßle und Kolacek leisten einen inspirierenden Diskussionsbeitrag zur Stadtentwicklung und Stadtplanung. Durch die Aufwertung und Belebung des Areals helfen sie dem Eigentümer und Investor, der Sicherheitspersonal und Hausmeister spart. Sie unterstützen aber auch die Stadt bei ihrer Wirtschaftsförderung. Mit ihren Inszenierungen, Führungen und Diskussionsanregungen sucht das Paar nicht nur nach dem „Land Utopia“, wie das aktuelle Projekt überschrieben ist. Sie holen auch ein Stück Stadt- und Industriegeschichte ins Bewusstsein der Kölner zurück. Viele haben vergessen, dass hier unter anderem der Ottomotor entwickelt wurde und Deutzer wie Mülheimer Erfindungen die Welt verändert haben.

Wenn man heute durch die Räume geht, ist diese Vergangenheit überall spürbar – die großen Jahre der pulsierenden Industriebetriebe, aber auch die Zeit, in der sie zusammenschrumpften und teilweise ganz untergingen. Gegenüber vom ehemaligen Verwaltungssitz produziert in einigen Hallen noch die KHD Nachfolgerin Deutz AG. In Kürze wird auch dieses Areal frei. Zwischen Zoobrücke und den Neubauwohnungen am Rheinufer vor der Mülheimer Brücke soll ein ganz neues Stadtviertel mit rund 3000 Wohnungen entstehen; dazu Gewerbeansiedlungen, neue Straßen und Plätze, Schulen und Kindergärten. Zur Zielsetzung gehört auch, das historische Erbe zu erhalten und für die vielen imposanten Gebäude neue Nutzungen zu finden. Was Investor Gottfried Eggerbauer mit dem Verwaltungsgebäude, das er gekauft hat, anfangen will, verrät er noch nicht. Für die beiden derzeitigen Nutzer seines Hauses steht aber fest, dass sie irgendwann weiterziehen werden.

„Es wäre schön, wenn sich auf dem Riesengelände irgendwo ein Denk-, Erinnerungs- und Kunstraum entwickeln würde“, sagt Leßle. „Aber das müssen nicht wir machen.“ Mit ihrer Kunst wollen sie „Transformationsprozesse“ begleiten. Es werde immer wieder Gebäude und Areale geben, die man für solch eine „Zwischennutzung“ zeitweise umwidmen kann. Das, was sie in Mülheim tun, sei „eine Blaupause“ für viele andere mögliche Projekte. Der Begriff „Zwischennutzung“ ist seit einigen Jahren Thema vieler Kongresse und Diskussionen. Kulturschaffende, Kreativwirtschaft, aber auch soziale Initiativen nutzen alte Gebäude, bevor diese für neue Zwecke umgebaut werden. Dabei geht es vor allem um verlassene Industriearchitektur, aber auch um Kaufhäuser, Bürokomplexe oder Ladenlokal-Zeilen. „Das ist ein Riesenthema, doch in Köln ist es noch nicht richtig angekommen“, so Anja Kolacek. Schlimmer noch: Weil ihr

Projekt schlecht in den bürokratischen, internen Abgrenzungen einer Verwaltung einzuordnen ist, fehlt dem „Raum 13“ in Köln offenbar ein Ansprechpartner, der Spaß an Gestaltung, Verantwortung und Risiko hat. Hilflos haben Stadt und Politik Leßle und Kolacek einem Fördertopf für die freie Theaterszene zugeordnet, obwohl ihr Projekt wenig mit klassischem Theater auf festen Bühnen zu tun hat. „Man muss sich dauernd erklären, rennt immer wieder gegen statische Gebilde an“, sagt Leßle. Immerhin hat es das Thema „Zwischennutzung“ in den Bündnisvertrag von CDU und Grünen im Stadtrat geschafft. Ob dem Papier Taten folgen, ist offen.

Begehbares Kunstwerk

„Raum13 – Deutzer Zentralwerk der der Schönen Künste“, Deutz-Mülheimer Straße 147-149

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