Schönheit der Vergänglichkeit #3–1
2012–2015

Ein urbanes Kunstprojekt, das die Räume des einstigen Weltkonzerns Klöckner-Humboldt-Deutz neu nutzt, seine traditionsreiche Geschichte aufgreift und sie in Analogie zu modernen gesellschaftlichen Umbrüchen und Strukturen setzt.

Der Stadtraum ist einem stetigen Wandel unterworfen, was heute modern ist, ist morgen veraltet und uninteressant. Ein besonderes Beispiel dafür ist die rechtsrheinische Kölner Industriebrache zwischen Zoo- und Mülheimer Brücke. In den 1860ern Wiege des Ottomotors und damit Ausgangspunkt der Weltmotorisierung, stehen heute dort verlassene Werkshallen und Verwaltungsgebäude und warten dornröschenartig auf ihre weitere Verwendung oder wandeln sich zu (Sub-)Kulturstätten aller Art. Die Umwandlung dieses Stadtraums über Generationen hinweg ist beispielhaft für die Umwälzung unserer Gesellschaft und steht im Fokus der künstlerischen Arbeit von raum13 Kolacek & Leßle.

Diese beeindruckende größte Brachlandschaft in Köln mit ihren zahlreichen Baudenkmälern erlebt nun in ihrem einstmaligen Herzstück eine neue Blüte. Die ehemalige Hauptverwaltung der Klöckner Humboldt-Deutz-Werke transformiert sich bis auf Weiteres auf Initiative von raum13 Kolacek & Leßle in das wohl größte urbane Kunstprojekt Kölns und bietet ein Forum und Arbeitszentrum für junge, zeitgenössische Kunst.

Mit Schönheit der Vergänglichkeit #3–1 reisen wir durch die Zeit von heute bis in das Gründungsjahr der Motorenwerke. Hier begann im 19. Jahrhundert die Weltmotorisierung und damit auch das uns prägende Erdölzeitalter, heute stehen wir an dessen Ende. In unserer Arbeit lassen wir Generationen miteinander kommunizieren. Träume, Ängste und Weltbilder zeigen den Wandel der Zeit. Ehemalige Mitarbeiter:innen des einstigen Weltkonzerns, die Architektur der Gebäude, die hinterlassenen Einrichtungsgegenstände sowie Akten, Briefumschläge, Fotos von Betriebsratswahlen und vieles mehr sind unsere Zeugen der Zeit.

Mit Schönheit der Vergänglichkeit #3_Wohlstand für alle, den ersten Teil unserer Reihe, setzten wir einen Schwerpunkt auf die Jahre 1950 bis heute. Den Mittelpunkt unserer Arbeit bilden der Ort, die Menschen und ihre Geschichte(n).

Schönheit der Vergänglichkeit #2_KriegsBlicke, Teil 2 der Trilogie, beschäftigt sich mit dem Thema (Welt-) Krieg, das die Moderne prägt wie kaum ein anderes. Die riesige Industriebrache der ehemaligen KHD-Werke gilt dabei sowohl als Zeuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wie zugleich auch als Ausgangspunkt für moderne Formen der Kriegsführung. KriegsBlicke begibt sich auf die Spurensuche nach den Voraussetzungen des Krieges sowie seinen Entstehungsbedingungen und oszilliert dabei permanent zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Schönheit der Vergänglichkeit #1_In 80 Tagen um die Welt, die dritte thematische Setzung in unserer Arbeit, vervollständigt die Trilogie. In 80 Tagen um die Welt ist eine spartenübergreifende Theaterinstallation, die die Anfänge der Industrialisierung, Mobilität und Weltmotorisierung im 19. Jahrhundert in den Blick nimmt und nach den Ursprüngen unserer mobilen und international vernetzten Gesellschaft fragt. Mit dem Slogan „Höher, schneller, weiter“ wird aber nicht nur das technikbegeisterte 19. Jahrhundert, sondern auch unsere digitalisierte und auf Leistungs- und Produktivitätssteigerung setzende heutige Gesellschaft künstlerisch hinterfragt und beleuchtet.

Darüber hinaus öffnen Anja Kolacek und Marc Leßle das Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste für nationale und internationale Theater- und Kunstproduktionen, die sich mit dem Thema 150 Jahre Industrialisierung und der damit einhergehenden Wandlung von gesellschaftlichen Strukturen beschäftigen. raum13 erstellt so ein künstlerisches Kaleidoskop gesellschaftlicher Momentaufnahmen: gestern, heute und morgen.

Thematische Kooperationsprojekte:

2012
FM Einheit + Irmler – Konzert
dreizehnterjanuar aus Wien – working class zero
Benjamin Schad – Träume von Günter Eich_nominiert für den Kölner Theaterpreis 2012

2013
FM Einheit + Saskia von Klitzing + Tim Isfort + Volker Kamp – Konzert KriegsBlicke
Gesine Grundmann – Ausstellung not one thing that you want is upstream
Pola Groß – Lesereihe Im Westen nichts Neues
G Kollektiv – Festivals Jung! Na und!_Europa / Zerbombt
Asasello Quartett – Spielzeiteröffnung

2014
Acht-Brücken-Festival – impuls
Kölner Gesellschaft für Neue Musik – Bad Trip Festival
Martin Kleppe – Medusas Garten
Festival Jung! Na Und!_Metropolis

Schönheit der Vergänglichkeit #3_Wohlstand für alle

Uraufführung 8. September 2012 | raum13 Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste

Der erste Teil der Trilogie Schönheit der Vergänglichkeit #3 – #1 ist ein urbanes Kunstprojekt, das die Räume des einstigen Weltkonzerns Klöckner-­Humboldt-­Deutz neu nutzt, seine traditionsreiche Geschichte aufgreift und sie in Analogie zu modernen gesellschaftlichen Umbrüchen und Strukturen setzt.

Mit Schönheit der Vergänglichkeit #3_Wohlstand für alle setzen wir einen Schwerpunkt auf die Nachkriegsjahre bis heute. Der Fokus der Produktion richtet sich auf den Ort, die Menschen und deren Geschichte(n). Ehemalige Mitarbeiter des einstigen Weltkonzerns, die Architektur, die hinterlassenen Einrichtungsgegenstände sind unsere Zeugen der Zeit.

Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit von raum13 ist die Industriebrache der ehemaligen Klöckner-Humboldt-Deutz – Werke. Hier wurde mit der Entwicklung des Ottomotors, in den 1870ern, der Grundstein für die Weltmotorisierung gelegt und damit das Erdölzeitalter eingeläutet, heute stehen wir an dessen Ende. Zu den Glanzzeiten des Unternehmens arbeiteten hier Tausende von Menschen, heute steht das Areal größtenteils leer, bewohnt von Obdachlosen, und Kupferbanden, die Metallreste aus den Mauern reißen und für ihren Lebensunterhalt verwerten. Urbane Subkulturen besetzen den Raum mit Graffetykunst und illegalen Partys. Das Bauwerk zeugt vom Aufstieg und Niedergang einer Epoche und wirft ein Schlaglicht auf unsere heutige Zeit. Wertewandel, Verfall, Fragen, die die Grundfesten unserer Gesellschaft betreffen.

Die Auseinandersetzung von Künstlern verschiedener Sparten mit dem Thema „Werte“ wirft nicht nur einen Blick in die Vergangenheit, sondern auch einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen in unserer global digitalisierten und kommerzialisierten Welt.

NOMINIERT FÜR DEN KURT-HACKENBERG PREIS FÜR POLITISCHES THEATER

Von: raum13 Kolacek & Leßle, Es spielt: Florian Lenz // Begleitet von: Christine Beckmann, Anja Kolacek, Johan Kolacek, Jakob Kolacek, Maximilian Märtirer// Inszenierung: raum13 Kolacek & Leßle // Raum | Licht: raum13 Kolacek & Leßle //Musik: FM Einheit // Kostüme: Moni Wallberg // Skulpturen Studio: Martin Kleppe // Skulpturen Foyer: raum13 Kolacek & Leßle, Mitarbeit Amanda König // Foto | Video: raum13 Kolacek & Leßle // Videoschnitt: Bastian Kleppe // Texte: Florian Lenz, Bastian Kleppe, Anja Kolacek und Marc Leßle // Zeitzeugen: Hans-Gerd Ervens, Helmut Müller, Hubert Mühlenbach, Dietmar Voß // Technische Leitung: Marc Leßle // Bühnenbild Assistenz: André Fängler // Presse-/Öffentlichkeitsarbeit: Christine Beckmann und Anja Kolacek Dank an: Deutz Automobile Canli, SF Custom Parts, Tim Abramczyk, Barbara Bechtloff, Jasmin Bolten, Wolfram Burgtorf, Christoph AP Cambeis, SF Custom Parts, Volker Eulitz, Nicole Hungsberg, Katharina Jukowski, Amanda König, Elisabeth Neuendorfer, Niklas Wandt, Katja Weber, Christopher Pott, Xaver Römer, Jan Seithe, Jeong-Il Sin, Lisa Spielmann, Georg Stein

Presse:

“Unbedingt sehenswert!” (StadtRevue I Oktober 2012 I Stefanie Torloxten)

“Ein für längere Zeit nachdenklich machender Theaterabend. Großartig, wie der Schauspieler blitzschnell Klang, Mimik, Ausstrahlung und Körperhaltung wechselt. …Viel Applaus für die eindrucksvolle schauspielerische Leistung von Florian Lenz, für die beiden Autoren und das ganze Team. (Theaterpur / Oktober 12 / Michael Cramer)

“Bildersturm…Dieser Abend ist die Feier eines Ortes als Kunstwerk… Im Innenhof qualmen und röhren alte Otto-Motoren wie störrische Relikte aus glorreicher Vergangenheit, liebevoll in Gang gesetzt von FM Einheit (“Einstürzende Neubauten”) persönlich, der auch die grandiose – und infernalisch laute – Maschinenmusik des Abends komponiert hat. Lenz spielt sich die Seele aus dem Leib. Im holzgetäfelten Nebenraum verwandelt er sich in Zeitzeugen, die hier gearbeitet haben. Zahlreich sind sie auch im Publikum vertreten und gerne bereit, Rede und Antwort zu stehen. Lenz fällt in tiefstes Kölsch, beugt sich tief zu uns, erzählt von Festen, Sorge, Solidarität und welch Zusammenhalt hat hier einst geherrscht. Krächzend singen wir “Aber der Wagen, der rollt” mit, als gehörten wir selbst dazu. AKT – Die Theaterzeitung / Oktober 2012 / Dorothea Marcus)

 

Mutter Deutz
Interview mit den Zeitzeugen Dietmar Voss, Hans-Gerd Ervens, Hubert Mühlenbach zu Schönheit der Vergänglichkeit #1

DV: Ich bin Vertriebener und bin dann damals durch Zufall im Haus eines technischen Vorstandes der damaligen KHD gelandet, und damit begann eigentlich schon der erste Kontakt zu diesem Unternehmen. Wir waren in Bergisch-Gladbach Sand in einem Lager, und meine Mutter hatte, aus welchen Gründen auch immer, auf der Flucht eine wunderschöne bestickte Tischdecke mitgenommen. Sie hatte diese Decke auf einem kleinen Tisch ausgebreitet, und zwei Töchter von Herrn Dr. Flats, das war der technische Vorstand von KHD, gaben dort die Speisung aus. Die sahen diese Decke und bewunderten die Stickereien, und über diese Decke kam dann der Kontakt zu meiner Mutter. Und dann stellte sich heraus, dass der Dr. Flats fünf Kinder hatte, und der jüngste Sohn war neun Jahre alt, ich war damals acht Jahre, und man fragte, ob ich nicht als Spielgefährte zu seinem Sohn kommen könnte. Ja, dann hat man mich also abgeholt, und dann begann für mich also eine komplett neue Zeit, denn die Flucht war schon katastrophal, und dort wurde ich richtig schön versorgt. 15 Tage später sind wir dann zu den Flats gezogen, wir bekamen im Dachgeschoss ein kleines Zimmer und hatten endlich mal die Möglichkeit, eine Türe hinter uns zuzumachen. Das Lagerleben war damit beendet.

Der weitere Weg war, dass dann meine Eltern fünf Jahre später Hausmeister wurden in einem Mehrfamilienhaus von Herrn Dr. Flats. In diesem Haus wohnten ausschließlich KHD-Leute, Führungsleute, und damit begann eigentlich auch der Kontakt zu dieser mittleren Führungsebene, obwohl ich 1951 erst 13 Jahre alt war, aber ich war handwerklich sehr begabt. Und in dem Haus wohnte auch ein Konstrukteur, und der war von meinen handwerklichen Tätigkeiten derart begeistert, dass er gesagt hat: Der Junge muss nach KHD. Denn dort suchte man sehr dringend Nachwuchs, weil durch die Kriegsereignisse viele Männer auf dem Feld geblieben sind und viele in Gefangenschaft waren, und man versuchte, die Jugend auszubilden, um sie bei KHD tätig werden zu lassen. Da begann ich also 1953 eine Maschinenschlosserlehre und habe dann allerdings nach anderthalb Jahren die Maschinenschlosserlehre aufgegeben aufgrund einer Empfehlung meiner Ausbilder, die meinten, ich wäre für den Schraubstock zu schade und ich sollte doch kreativ arbeiten. Und man schlug mir vor, die Ausbildung als technischer Zeichner zu beenden. Das habe ich gemacht und 1956 kam ich dann in die Konstruktion für luftgekühlte Dieselmotoren, hier in diesem Gebäude, damals auf der zweiten Etage. Das war mein Einstieg in das Unternehmen KHD.

HGE: Ich war in der vierten Generation hier, uns Firma war unsere Identifikation. Mein Vater war hier, der ist mit 63 in Rente gegangen, zwei Onkel waren hier, meine Cousins waren hier, mein Großvater ist von Deutz, damals noch bei der Gasmotoren-Fabrik 1928, der Urgroßvater war auch hier, der war erst mal bei Van der Zypen, spätere Westwaggon, und ist dann hierhingekommen. Wir waren also ein Familienunternehmen, man kannte sich nicht nur, man wohnte teilweise zusammen und dadurch hatte man den Vorteil, wenn irgendwo im Betrieb was klemmte und man hatte Bekannte in einem anderen Betrieb oder Verwandtschaft, konnte man dahingehen und pass mal auf, ich habe da ein Problem, kannst nicht mal helfen oder ein bisschen schneller meinen Auftrag bearbeiten, dadurch fluppte alles, wie man so schön sagt in Köln. Und wenn es fluppt, dann ist das positiv und geht schnell, und das war auch kein Kölscher Klüngel, denn man kannte sich, man war verwandt und man half sich gegenseitig, damit der Laden lief.

Es gab viele Sozialleistungen, wenn die Kinder zur Kommunion gingen, kriegte man ein Geschenk, wenn man geheiratet hat, kriegte man ein Geschenk. Wir hatten eine Krankenschwester, wenn jemand längere Zeit krank war, kam die einen besuchen, brachte einen Korb mit Früchten, das war alles Sozialfürsorge, die mit dem Betriebsrat vereinbart wurde. Man hat sich getroffen, Feste gefeiert, wenn einer 25-jähriges Jubiläum hatte. Das war natürlich eine große Sache, und dann hat man Witze gemacht, ob wir das auch schaffen oder ob man uns vorher schon verheizt hat.

Das ist schon eine Vergangenheit, besonders wenn man von der ganzen Familie noch weiß, wo die gearbeitet haben. Das sind ja auch Arbeitsplätze. Die Firma hatte ja auch Wohnungen, Werkswohnungen, es gab sogar Erholungsheime im Westerwald, wo man hingeschickt wurde, wenn man eine gewisse körperliche Belastung nicht mehr aushielt durch die Arbeit. Das findet man heute nicht mehr.

HM: Körperlich war das sehr anstrengend, wir hatten Akkord, wir hatten alle Profile, und die mussten während dem Anzeichnen gedreht werden, da hatte man Oberflunsch, Unterflunsch, und was es so all gibt … und die mussten von drei Seiten angezeichnet werden, ich will jetzt mal nicht über- treiben, aber bis 200 Kilo haben wir in der Klaue gehabt und die mit der Hand gedreht. Was größere Sachen waren, die wurden natürlich mit dem Kran gedreht. Und da war immer viel Krach. Und ein Kollege, wenn der lange den Kran festgehalten hat, kam der andere mit seiner Arbeit nicht weiter im Akkord. Da flippte man schon mal ein bisschen aus, aber wir haben uns schnell wieder vertragen. Wenn dann mal was Schlimmeres war, wurde der Betriebsleiter eingeschaltet und der hat das im Griff gehabt mit uns.

HGE: Wir haben früher in Mainz-Mombach Omnibusse gebaut, wir haben in Ulm Feuerwehren gebaut, in Oberursel haben wir Triebwerke gebaut für die Bundeswehr oder für die amerikanischen Flieger, in Berlin hatten wir ein großes Pumpenwerk, in Herschbach und Mündersbach, Herschbach existiert noch, wie ich gehört habe, wir hatten die Westwaggon aufgekauft, wir hatten in Förde einen großen Betrieb, wo die Großmotoren geprüft worden sind … wir waren eine Weltfirma mit einer ganz großen Palette. Der Schlepperbau, die Feuerwehr, Busse, LKWs, der Magirus war damals eine Marke auf dem Bau, oder die ganzen Baumaschinen mit Deutzmotoren, die werden heute zwar teilweise noch gebaut, aber wir sind nicht mehr. Oder auf dem Rhein sind wir kaum noch vertreten mit Deutzmotoren. Früher konnten sie auf dem Rhein sehen, wo überall dieser rote Wimpel oben am Fahnenmast hing, da waren Deutzmotoren drin, man stand am Rhein und sagte: Da kommt einer, ist wieder einer von uns, nee, dat is keiner von uns, ist aber ne Seltenheit, dass hier mal einer kommt, der z. B. einen Sulzer drin hatte oder MTU-Motor oder MAK, wie die Mitbewerber alle hießen.

Wenn man sagte, man ist bei Deutz, dann war das ungefähr, als wenn man Beamter bei irgendeiner hohen Behörde war, und wenn man keine goldenen Löffel klaute oder einen Klüngel mit der Chefsekretärin anfing, dann war man unkündbar, uns Firma, die Identifikation sehr groß und entsprechend auch die Motivation. Wir waren ein Weltunternehmen, aber die Belegschaft lebte wie in einer großen Familie.

DV: Der damalige Fertigungsvorstand, das war ein absoluter Praktiker, der ging als Vorstand mindestens einmal in der Woche in die Betriebe, der war bekannt und er informierte sich über jede Investition. Wenn es also hieß, es muss eine Maschine ersetzt werden, dann war dieser Vorstand vor Ort, hat mit dem Arbeiter, der diese Maschinen bediente, gesprochen und hat gefragt – warum, wieso, weshalb – und erst wenn er der Meinung war, in Kombination mit den Gesprächen, hat er den Investitionsauftrag unterzeichnet. Später hat kein Vorstand mehr so reagiert. Im Gegenteil – und das ist auch eine lustige Sache: Ein Nachfolger ging mal durch diese berühmte Halle 100 und wurde dann von jemandem angesprochen: „Hören sie mal, was machen sie hier?“ Die kannten ihn überhaupt nicht in der Fertigung!

Schönheit der Vergänglichkeit #2_KriegsBlicke

Uraufführung Mai 2013 | raum13 Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste

Die riesige Industriebrache der ehemaligen KHD-Werke gilt sowohl als Zeugin der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wie zugleich auch als Ausgangspunkt für moderne Formen der Kriegsführung. Die Industrielle Revolution brachte nicht nur enorme technische Errungenschaften mit sich, sondern verursachte auch die rasante Entwicklung der Verkehrs- und Kommunikationstechnologien. Durch die Möglichkeit, Massenprodukte und damit auch Waffen und andere Kriegsgüter schnell herstellen und transportieren zu können, wurden die Voraussetzungen für die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts und ihre vernichtenden Dimensionen geschaffen.

Aber wie kam es dazu? Sind Technologie und Ideologie eine „Synergie“ eingegangen? Oder ist der Zusammenhang von Rationalität und Barbarei, der beide Weltkriege kennzeichnet, nicht eher Folge einer „Dialektik der Aufklärung”, wie sie schon Adorno und Horkheimer beschreiben? Angelehnt an Christa Wolfs Bemerkung „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen”. (Kassandra) fragt auch dieses Projekt nicht nur nach den Mechanismen und Bedingungen des Krieges, sondern auch nach seinem „Vorkrieg“ und schlägt damit eine Brücke in die Gegenwart.

2013. Wie zu Zeiten der Industriellen Revolution verändert sich unser Leben heute rasant. Wir stehen inmitten der digitalen Revolution. Soziale, kulturelle, wirtschaftliche und nicht zuletzt politische Umwälzungen finden im Gigahertz-Rhythmus statt. Genau 100 Jahre nach 1913, dem Vorabend der beginnenden Katastrophe. KriegsBlicke begibt sich auf eine Spurensuche nach dem „Vorkrieg“ und bewegt sich in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Vergangenheit. War der „Vorkrieg“ 1913 schon spürbar? Wie standen die Menschen 1913 zum Krieg? Wirkt die damalige Annahme des Friedensaktivisten David Starr Jordan, dass es keinen großen Krieg geben werde, da die internationale Finanz- und Wirtschaftswelt zu eng miteinander verflochten sei, gerade deshalb so bedrückend, weil die Situation der heutigen so stark ähnelt? Wie gehen wir heute eigentlich mit „Krieg“ um? Wähnt sich die „Generation des Friedens“, die noch nie einen Krieg im eigenen Land erlebt hat, in Sicherheit vor einem Weltkrieg, oder vor welchen Herausforderungen stehen wir? Welche Auswirkungen haben Bundeswehr-Einsätze auf mentale und gesellschaftliche Strukturen, und wie stehen wir zu internationalen Einsätzen der NATO? Geht Syrien uns etwas an, oder ziehen wir uns doch lieber in unsere eigene Friedenswelt zurück? Wohin führt uns der gesellschaftliche Umbruch des 21. Jahrhunderts?

KriegsBlicke verbindet die Außensicht auf den Krieg durch dokumentarisches Text-, Bild- und Tonmaterial mit persönlichen Berichten und Geschichten von Zeitzeugen, die ein inneres Bild des Krieges entwerfen. Die Spannung zwischen Außen- und Innensicht, Vergangenheit und Gegenwart, Industriebrache und digitalen Effekten eröffnet neue Zusammenhänge und Perspektiven. Bindeglied bleibt jedoch immer die virulente Frage nach den Voraussetzungen des „Vorkrieges“ und der Möglichkeit, ihn zu erkennen. Bei unserer künstlerischen Arbeit stehen – ähnlich wie bei einer Diskursanalyse – weniger konkrete Fakten, sondern vielmehr die unterschiedlichen Darstellungen und Wahrnehmungen des Krieges und seiner Vorgeschichte im Fokus.

AUSGEZEICHNET MIT DEM KURT-HACKENBERG PREIS FÜR POLITISCHES THEATER
NOMINIERT FÜR DEN KÖLNER THEATERPREIS 2013


Von: raum13 Kolacek & Leßle, Inszenierung: Anja Kolacek, Bühne / Licht: Marc Leßle, Textfassung / Dramaturgie: raum13 Kolacek & Leßle und Pola Groß, Bühnenmusik: FM Einheit, Kostüm: Moni Wallberg, Von und mit: Nikolaus Benda, Anne Düe und Florian Lenz, Bühnenbildassistenz: Verena Bildhauer

Presse

Kurt-Hackenberg-Preis 2013 Laudatio für den Preisträger

„KriegsBlicke“
Eine Produktion von raum 13, Anja Kolacek und Marc Lessle
Eine riesige düstere Industriehalle, kahl und verkommen, mit dem Flair des Vergangenen, explosiv rockende Musik, Menschen in wildem Arbeitsrhythmus mit Vorschlaghammer und Kreissäge, in Staub und Funkenregen, schaffen sie, zerstören sie? So beginnt die Produktion „KriegsBlicke“.
In einer Collage aus fesselnden und verstörenden Bildern, Berichten von Zeitzeugen und literarischen Quellen befragt diese Produktion Historie und Gegenwart – wo sind die Momente, in denen Gesellschaft kippt, in denen man sich in Sicherheit einlullt, in denen alles auf Krieg hinausläuft, wann beginnt der Vorkrieg?
Großartig die Kunst der drei Schauspieler, diese Vielfalt der Erinnerung, Phantasie und Träume darzustellen: berserkernde Industriearbeiter, sensible Zeitzeugen, Soldaten, die ihren Job machen, brüllende Demagogen und gehorsamtrunkenes Volk, tänzerisch-zarte Zuneigung über Grenzen hinweg, Absinken in den Wahnsinn. Großartig auch die kongeniale Musik von FM Einheit.
Augenblicke aus den 100 Jahren zwischen 1913 und heute werden fokussiert: Patriotismus, Selbstüberschätzung, Verzweiflung, Schrecken, falsche Hoffnung. Die Szenen bilden einen Spannungsbogen vom Damals zum Heute. Die damals moderne Technik, deren Zeuge die alte Werkshalle ist, gab Hoffnung auf besseres Leben, war zugleich Anstoß zu immer perfekterer Kriegsführung. Die internationale Verflechtung von Wirtschaft und Finanzwelt schien Kriege auszuschließen. Eine falsche Sicherheit, in der wir uns auch heute wähnen? Bedrückend die Zitate aus der damaligen Kunst- und Intellektuellenszene, durchweg kriegsbegeistert. Da bröckelt auch die eigene friedensbewegte Sicherheit – in einem Land, das teilnimmt an Morden und Kämpfen, die als „Krieg gegen Terror“ gerechtfertigt werden, unterstützt von modernster IT- Technik. Sind wir nicht alle gegen Krieg?
Eine Produktion, deren Ästhetik fasziniert und die einen nachdenklich entlässt.
Anna Dünnebier und H.- Georg Lützenkirchen für die Jury des Kurt-Hackenberg-Preises, ausgelobt von der Freien Volksbühne Köln e.V., Köln im November 2013

„Eine packende Antikriegs-Collage in originaler Zeitzeugen-Umgebung. Kompliment für Engagement und Mut eines kleinen Theaters.“ (…)
„Langer, nachdrücklicher Applaus des vollbesetzten Hauses für eine exzellente schauspielerische Leistung. Das Team hat sich nicht nur physisch, sondern auch mental an seine Leistungsgrenze gespielt.“
(theater pur, Michael Cramer, Juni 2013)

„Berührend, wenn das Trio in einer tänzerischen Sequenz an Truffauts Film „Jules und Jim“
erinnert, diese deutsch-französische Vorkriegs-Menage-à-troi. (…)
Es sind einfache, durchaus überzeugende Bilder mit großem Hang zu körperlicher Unmittelbarkeit, verbaler Attacke und Pathos, die die Atmosphäre von 1913 heraufbeschwören sollen.“
(Choices, Hans-Christoph Zimmermann, 25.06.2013)

“Eindrucksvoll gelingt [Benda] die Banalität im Habitus des Soldaten, aber auch der Realismus, mit dem dieser über das Risiko und die Entschlossenheit spricht, seine “Arbeit” so gut zu machen, wie es ihm möglich ist….das Spiel der drei Akteure ist kraftvoll und stimmlich ausgefeilt.”
(Kölner Rundschau, Thomas Linden, 18.06.2013)

“Eine bessere Kulisse hätte sich für „KriegsBlicke“ wohl kaum finden lassen.”
(Welt Kompakt, Christin Otto, 18.06.2013

“Schönheit der Vergänglichkeit #2_KriegsBlicke” im Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste ist ein intensiver, sehr sehenswerter Abend, der Leid und Wirren des Krieges direkt, teilweise überdeutlich aufzeigt. Nominiert für den Kölner Theaterpreis 2013 und den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater. Der Erste Weltkrieg ist nicht plötzlich, wie ein Erdbeben, über die Menschheit hereingebrochen. Er hat sich vor 1914 angekündigt und wurde von vielen, etwa Ernst Jünger, zunächst als reinigendes Gewitter verherrlicht, in dem sich die überschüssigen Energien der Zeit entladen konnten. Es kam anders. Der Zweite Teil der Trilogie “Schönheit der Vergänglichkeit” heißt “KriegsBlicke” und untersucht im Theaterraum von raum13 die Vorkriegszeit auf Zeitgeist und Weltbilder, der Bogen spannt sich bis in die Gegenwart hinein.
Die Industrieruine der Fertigungshalle der KHD unterstützt mit ihrer Aura die Erkundung von Industrialisierung und Krieg, Macht und Ohnmacht, Leid und Ängsten. Schon das Anfangsbild nimmt gefangen. Nikolaus Benda, Anne Düe und Florian Lenz zertrümmern mit dem Vorschlaghammer Steine, bearbeiten mit einer Flex funkensprühend Metall. Die fabrikmäßige Produktion der Kriegsmaschinerie wird plastisch vorgeführt, der zerstörerische Aspekt der Industrialisierung, von der auch die gewaltige Halle zeugt, leitet die Aufführung spektakulär ein. Gesprochene Szenen wechseln sich mit performancehaften und choreografierten Passagen ab. Die Geschichte eines Frontsoldaten, der mit letzter Not einem Granatenangriff entflieht, trifft auf die Aussagen eines deutschen Soldaten im Afghanistaneinsatz, der “schließlich dort ist, um zu schießen”. …” (akt. Theaterzeitung // Christoph Ohren // ein intensiver, sehr sehenswerter Abend – 01.09.13)

 

KriegsBlicke
Interview mit Adolf Hellmich | Schönheit der Vergänglichkeit #2

1925 in Ostpreußen geboren
1942 gemustert
1943 eingezogen

Vorkriegszeit

Ich hab dann 1930 mitgenommen, ganz fest, dass es den Leuten schlecht ging. Bei uns im Dorf weiß ich, dass die alle keine Arbeit hatten, sofern sie nicht Bauern waren. Und dass sie politisch sehr aktiv waren. Ich entsinne mich an die Kommunisten, und mein Vater war Sozialdemokrat, ’n aktiver Sozialdemokrat. Der Kommunist von meinem Vater kam und sagte: Die, das waren die Nazis, die in der Hauptstadt waren, wollen uns alle umbringen. Und der, der hat das nicht als dummes Gerede genommen, sondern als echte Drohung, der hatte Angst. Und an die Machtübernahme kann ich mich sehr gut besinnen. Da marschierten die Nazis mit ihren Fahnen und Fackeln und sangen. Paar Tage später war bei uns Hausdurchsuchung. SA und Polizei.

Ja, es gab Arbeit. Mein Vater bekam Arbeit dann bei der Bahn. Es muss schon …, ja vermutlich 34, ja 34 wurde schon der erste Mai da doll gefeiert, da war der Vater schon beschäftigt bei der Bahn. Also auch bei uns auf dem Dorf machte sich das bemerkbar. Ich weiß, bei uns, da mit den arbeitslosen Arbeitern wurden die beiden Dorfteiche entschlammt. 34 da waren bei uns Feste, die hats im Dorf gar nicht gegeben. Und ich weiß, dat warn Fest, da marschierte die SA auf, aber auch der Pfarrer hat ne Predigt gehalten. Also, es passierte was Neues. Bei den Bauern kam auch Schwung, Reichsnährstand hieß das da und so was alles. Also, das war toll. Breites, breites Plus. Bei uns im Dorf war ja die Bauernseite sehr stark. Da wurde eingeführt: Bauernführer, Ortsbauernführer, Bezirksbauernführer, Reichsnährstand. Also da war positive Entwicklung. Dann gab’s für die jungen Leute Ehestandsdarlehen, dass se heiraten, und es wurde Kindergeld eingeführt. Ja, und dass Arbeiterkinder zur höheren Schule gingen, das hat es bei uns nicht gegeben. Und ich kam dann 39, ging ich dann auch zur höheren Schule. Mit 14 erst, aber da hatten die eine Lösung. Aufbauschule, dass die Kinder vom Land mit 14 erst in die Schule kamen. Weil sie ja zum Teil von Zuhause wegmussten, nich? Ich konnte, nach Friedland konnte ich fahre. Mit dem Zug und auch mit’m Fahrrad. Also ich glaub schon, dass ne positive Grundstimmung da war.

In der Schule habe ich in Erinnerung, dass in der Pause auf’m Schulhof, die großen Jungs, so zwölf bis 14 getrennt saßen, die Arbeiter und die Nazis sozusagen. Die Nazis waren die Bauern und die Arbeiter waren die Arbeiter. Nur mein Onkel, der war Schuhmacher, und der wusste immer nicht, wo er hingehörte. Nach 33 waren die auf einmal alle nette Jungs. Da hat’s diese Gruppierungen nicht mehr gegeben. Mein Onkel hatte im selben Haus, in dem wir wohnten, ne Schuhmacherei. Und ich bin da als Junge, wenn’n Kunde zu ihm kam immer reingegangen, zu der Werkstatt, und habe zugehört, was die sprachen. Und das war alles positiv. Aber! Bei der Oma kamen da so Gedanken: Wenn das so weitergeht, gibt es Krieg.

Weißt du, dieser Weg zu Österreich, Sudetenland, das wurde so alles aufgenommen, aber wenn es so weitergeht, dann gibt es Krieg, und vor Krieg hatten unsere Leute ja Angst. So ganz trauten sie den Nazis nicht. Aber bei uns wurden die Jungs Soldat. Militär war ja für die Jungs vom Land die einzige Karrierechance.

Vom Nazibeginn und 35, die durften ja nur diese 100 000 Leute haben, aber das nannten sie schwarze Reichswehr. Ich weiß nicht genau, was das war. Also, jedenfalls spielten die Soldaten, und ich weiß, das ich in dieser Zeit, da war ich also noch keine zehn, auch bei uns am Dorf zu ner Veranstaltung gewesen bin, ob da richtige Soldaten, also ob die Uniformen haben, da bin ich unsicher. Aber wir haben da, also ich glaub, wir haben sogar an Maschinengewehren irgendwas da gezeigt bekommen.

Ja, mein Vater. Der hat ja viel mit uns gesprochen. Mein Vater hat mit sozialdemokratischen Funktionären gesprochen, die abgesetzt wurden. Vermutlich waren die Beamte irgendwo und sind rausgeschmissen worden. Die Nazis haben ja dann das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nach vorne gebracht, dass sie die entlassen konnten. Aber da hat’s Prozesse gegeben, und da kriegten die Pension. Und da weiß ich, dass mein Vater mal nach Hause kam und gesagt hat, er hätte den Sowieso getroffen und der hat gesagt, das muss vor Kriegsbeginn gewesen sein: Die würden ihn wieder einstellen, die hätten sich ja alle geläutert. Und da hat er gesagt: Das Schlimmste, was mir passieren kann, wenn ich wieder arbeiten muss.

Ich glaube 39, da breitete sich das Gefühl aus, das gibt Krieg. Da gab’s dann schon die Einberufungsbefehle und so was alles und ich wurde mit 14 Jahren verpflichtet für die Feuerwehr, das waren ja alles so Vorbereitungen. Die Pferde wurden gemustert, mit Autos weiß ich nicht, da gab’s zu wenig bei uns.

Kriegsbeginn

Der erste September war ein Freitag, und der dritte September war, wo die Engländer uns den Krieg erklärt hatten. Ich kann mich besinnen, ich war mit meinen kleinen Geschwistern im Wald und hab Blumen gesucht und wir kamen nach Hause und da hat die Mutter gehört, dass die Engländer uns den Krieg erklärt haben und da hat sie geweint und hat gesagt und den Krieg verlieren wir und dann müssen wir hier weg, so ungefähr. Aber dieser Marsch nach Polen, den haben die alle sehr tief begeistert aufgenommen. Weil wir immer skeptisch den Polen gegenüber waren. Wir kannten ja ganz wenig Polen.

Euphorie würde ich nicht sagen. Die ist mal bei meinem Vater ausgebrochen. Der erinnerte sich an die Kämpfe im Westen im ersten Weltkrieg und der wollte wieder dabei sein. „Ja, Papa, sei froh, dass du bei der Bahn bist.“ Er ist später auch in russische Gefangenschaft gekommen. Nein, Euphorie würde ich nicht sagen. Ja, Polen. Ja, das gönnten wir denen ungefähr so als Ostpreußen. Und waren vielleicht auch ein bisschen stolz, dass das alles so schnell gegangen ist. Aber wir hatten dann auch schon die ersten Toten aus’m Dorf als Soldaten. Also, da war keine Feindstimmung gegenüber der Regierung. Ich meine, bei den Frauen, ich weiß von meiner Großmutter, bei meiner Mutter, die waren im Ersten Weltkrieg geflüchtet und waren dann wieder zurückgekommen. Also die Frauen, die waren überzeugt, es gibt den großen Krieg und den verlieren wir.

Ich bin ja dann mit 14 zur Schule gekommen, zur höheren Schule. Ich hätte ja bis 20 gebraucht, um Abitur zu machen. Und da hat ja der Russlandfeldzug begonnen, und da hatte man das Gefühl, der Krieg dauert noch seine Zeit. Also für mich war klar, Abitur kannst du hier nie machen. Die ziehen dich ein. Und ich bin ja dann mit mittlerer Reife abgegangen. Und hab ja den Beruf noch angefangen, Baupraktikant. Aber dann wollt ich ja dann. Jetzt weiß ich nicht. Ja, ich werde am ersten April den Beruf angefangen haben und im Januar wurde ich eingezogen. 43. Ich war ein guter Soldat.

Verwundung und Lazarett

Das mit dem Arm fand ich ja sehr schick. Aber ich wurde sofort wieder Kriegsverwendungsfähig. Da war ich ja dann im Lazarett. Da musste ich, weil ich sonst in Ordnung war, abends das Lazarett bewachen. Bin ich abends mit diesem kaputten Arm und Gewehr auf Wache gezogen. Sonst hätten die Sanitäter das machen müssen.

Jetzt nach dieser Verwundung. Vom Lazarett zum Ersatzgruppental nach Holzminden verschickt. Und ich kam dort an: Ostersamstag. Da passierte nischt. Ostersamstag, erster, zweiter Feiertag. Also mussten wir nach Ostern zur Genesungskompanie. Und da hatten sich so 30 Leute angemeldet, die alle aus den Lazaretten gekommen waren. Mussten wir schön antreten, alle nach Dienstgrad: Oberfeldwebel links, der Letzte und auch Kleinste: der Panzerpionier, A. H. Jetzt mussten wir zu dem Hauptmann, und dem Hauptmann mussten wir uns dann melden. Noja, es dauerte, bis ich da rankam.

Aber dann hat mancher den Spruch, den er sagen sollte, auch quer durcheinandergebracht. „Ich, Grad Panzerpionier Hellmich, erster Panzer P4 von Reservelazarett Tarnung, Kaltlazarett Schatzkeschule zur Genesungskompanie, erstes Panzerpionierersatzbataillon 19 kommandiert.“
Und ich hatt den Eindruck, so ’n Spruch hat er noch nicht gehabt. „So, Sie waren bei der ersten Kompanie, Panzer P4?“
„Ja.“
„Was waren Sie dort?“
„Ich war Chefmelder, Herr Hauptmann.“
„Bei?“
„Bei Herrn Oberleutnant Tante, Herr Hauptmann.“
„Sie sind Ostpreuße?“
„Ja.“
„Dann haben sie ja weit zu fahren. Dann sagen wir mal 14 Tage Genesungs- urlaub.“

Da muss ich ein derartig böses Gesicht gemacht haben, denn da stand drin in meinem Brief, den ich abgegeben hab, den hatte ich natürlich gelesen, dass ich 14 Tage Genesungsurlaub krieg. Aber ich war ja jetzt schon über ein Jahr nicht zu Hause gewesen. Also ich hab ein derartig blödes Gesicht gemacht, dass der Herr Hauptmann den Pionier, der vor ihm steht, fragt:

„Sind Sie zufrieden?“
„Nein, Herr Hauptmann.“
„Dann sagen wir 14 + 14 + 2. Sind Sie zufrieden?“ „Jawoll, Herr Hauptmann.“
„Sind sie vorbestraft?“
„Nein, Herr Hauptmann.“
„Stehen Sie still. Ich befördere Sie zum Gefreiten“

Raus. Vier Wochen nach Hause. Also, war wunderschön.

Und da waren zu Hause noch Friedenszustände (Mitte 44). Da dachte noch keiner, dass die Russen kamen oder so. Und ich bin ja dann kurz vor Weihnachten wieder da lang, da waren alles schon Panzergräben ausgehoben und so was alles. Da war schon Krieg, ja. Die rüsteten. Dachten auch alle schon an fliehen und so. Grausam.

Heimaturlaub

Ich bin abends angekommen. War alles dunkel schon. Ich bin durch das Dorf gegangen, ohne jemanden zu treffen. Es muss aber so spät gewesen sein, dass ich nicht zu meinen Großeltern gegangen bin. Und bin dann nach Hause gegangen, auf unser Häuschen, hinterm Dorf. Und die hatten, da war ja alles verdunkelt, nich, war alles dunkel. Und die hatten Nachrichten gehört. Und da waren Angriffe, Luftangriffe auf Berlin. Und meine Mutter wusste, dass ich ja auf Urlaub kommen will. Und dass ich dann über Berlin fahren müsste. Und hat gesagt: „Wenn man über Berlin kommt, wird denn dort nichts passiert sein.“ Und dat erzählt se, und in dem Moment kloppt es gegen das Fenster. Und hat jesacht: „Dat is da Adolf.“ Und dann kamen die raus. Naja, der Vater sagt so klein und roh, wie hat er gesagt? … „Du kleines Krüppelchen. Son kleines Krüppelchen, das werden wir schon ernähren.“ Nein, also. Ja wir haben auch nicht in den vier Wochen da diskutiert, was wirst du machen oder so was. Ich kriegte auch keine Massage oder so was da. Nich. Ich trug den Arm, bisschen stolz, son bisschen stolz auch hier. Der Adolf Hellmich, der Adolf, hat auch was mitgekriegt, nich, sagten die im Dorf. Und die Hand, die hat geschmerzt. Da kamen die Leute und die gaben mir die Hand. Und ich steckte die Hand in die Tasche.

Schönheit der Vergänglichkeit #1_In 80 Tagen um die Welt

Uraufführung: Donnerstag, 30. April 2015, 19:30 Uhr | raum13 Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste

Anja Kolacek und Marc Leßle vervollständigen mit der dritten thematischen Setzung “In 80 Tagen um die Welt” ihre Trilogie Schönheit der Vergänglichkeit #3-1.

In 80 Tagen um die Welt ist eine spartenübergreifende Theaterinstallation, die die Anfänge der Industrialisierung, der Mobilität und der Weltmotorisierung im 19. Jahrhundert in den Blick nimmt und nach den Ursprüngen unserer heutigen mobilen und international vernetzten Gesellschaft fragt. Neben der literarischen Vorlage von Jules Vernes „Reise um die Erde in 80 Tagen“ von 1873 bildet insbesondere die außergewöhnliche Spielstätte mit den heute leer stehenden Industriehallen des einstigen Weltkonzerns Klöckner-Humboldt-Deutz, in denen vor gut 150 Jahren die Weltmotorisierung begann, den Ausgangspunkt unserer künstlerischen Arbeit.

In 80 Tagen um die Welt verfolgt daher keine textgetreue Inszenierung der Abenteuergeschichten rund um Vernes Protagonisten Phileas Fogg, sondern orientiert sich vielmehr an dem im Roman beschriebenen Zeitgeist und dem Streben nach Mobilität, Beschleunigung und Fortschritt. In diesem Kontext ist insbesondere auch der Autor Jules Verne selbst interessant, der, obzwar vom literaturwissenschaftlichen Kanon lange vernachlässigt, als einer der Begründer der Science-Fiction-Literatur gilt. Mit seinen zukunftsweisenden Texten wie „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ (1869/70), „Reise um den Mond“ (1870) und „Paris im 20. Jahrhundert“ (1863) hat er die technologischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts literarisch vorweggenommen und bewegt sich mit seinen Konstellationen des Möglichen gleichsam in einem Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Die in Vernes Romanen beschriebene rasante Entwicklung der Verkehrs- und Kommunikationstechnologien findet ihren materialen Ausdruck in unserer Spielstätte mit ihren industriell-technologischen Wurzeln. Auch der in den literarischen Vorlagen geschilderte Entdecker- und Erfindergeist lässt sich in personifizierter Weise auf Nikolaus August Otto, den Erfinder des Otto-Motors, Gründer der Deutz-Werke und damit Begründer der Weltmotorisierung, übertragen. Die im 19. Jahrhundert einsetzende und immer weiter fortschreitende Entwicklung der Mobilität, Motorisierung und technischen Produktivität ist jedoch heute keineswegs abgeschlossen. „Höher, schneller, weiter“ steht als Slogan nicht nur prototypisch für das technikbegeisterte 19. Jahrhundert, sondern kennzeichnet auch unsere digitalisierte und auf permanente Leistungs- und Produktivitätssteigerung setzende Gesell- schaft. Sogar das Reisen, bei Verne einst noch neugieriges Entdecken und Erfahren von fremden Ländern und Kulturen oder aber Möglichkeit des Innehaltens und Ausruhens, wird heute durch eine regelrechte Freizeitindustrie mit ihren pauschalisierten Urlaubsangeboten und optimierten Kosten-Nutzen-Rechnungen genormt und konsumierbar.

In 80 Tagen um die Welt greift diese die damalige und heutige Gesellschaft kennzeichnenden Momente von Mobilität, Beschleunigung und Fortschrittsglauben auf und verbindet sie zu einer audiovisuellen Theaterinstallation. Angelehnt an Vernes Beschreibung seiner Bühnenbearbeitung von „Reise um die Erde in 80 Tagen“ als „Spektakelstück“, setzen auch wir – ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts – auf ein traditionelle und futuristische Mittel gleichermaßen einbeziehendes Technikspektakel: Video-, Musik- und Soundeinspielungen werden aufwendig produziert, indem etwa Geräusche eines Heißluftballons, des Schienen- und Flugzeugverkehrs aufgenommen und teils im Vorfeld, teils live mit passendem Bildmaterial zu einer audiovisuellen Installation gebündelt werden.

Alte Motoren und Maschinen, Projektionen, Video- und Sound-Einspielungen werden an performativen Zwischenstationen in der ehemaligen Werkshalle sowie großflächig im riesigen, zur Open-Air-Bühne umfunktionierten Innenhof der Industriebrache präsentiert. So wie die Kunst früher zu den techne (lat.) zählte, wird hier die Technik als gleichwertiger künstlerischer Partner der Schauspieler:innen begriffen, die mal im Einklang mit der Technik, mal in Opposition zu ihr agieren. Das Publikum befindet sich mitten im Geschehen und kann so ganz eigene Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Einzelnen in einer gleichermaßen spannend wie beängstigend durchtechnologisierten Welt finden.

Konzept | Idee: raum13 Kolacek & Leßle | Inszenierung: Anja Kolacek und Marc Leßle In Zusammenarbeit mit: Jonas Anders, Verena Bildhauer, Kathrin Blume Wankelmuth, Volker Eulitz, Katja Gehrke, Karl Hilmes, Nicol Hungsberg, Martina Kock, Ellen Müller, Josefine Patzelt, Inna Poltorychin, Oliver Schell, Andreas Schmid, Anna Tenta, Ilaa Tietz, Elsa Weiland // Dank an: Jan Breitenstein, Friedhelm Bussiweke, Marita Cramer, Michael Cramer, Winfried Gellner, Katja Just, Johannes Just, Werner Kolacek, Wolfram Kollig, Uschi Leßle, Rolf Scheyer, Martin Schmidt, Pina Uhse Zeitzeugen: Dieter Becher, Hans-Gerd Ervens, Adolf Hellmich, Erich Höhner, Kurt Hoef-Emden, heinz Hoef-Emden, Helmut Müller, Hubert Mühlenbach, Dietmar Voß, Walter Vormstein

NOMINIERT FÜR DEN KURT-HACKENBERG PREIS FÜR POLITISCHES THEATER 2015

Presse:

Odyssee durch die Katakomben Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste: “In 80 Tagen um die Welt”

Mit starrem Blick wandeln die Darstellerinnen in altmodischen Herrenklamotten auf ihre Zuschauer zu, langsam, schlafwandlerisch, wie in Trance. Über der kleinen Bühne im Hof des Deutzer Zentralwerks der Schönen Künste prangt in großen Lettern “Die Kunst der Revolution”, darüber bricht die Abendsonne durch den wolkenverhangenen Himmel und taucht das morbide Fabrikgelände in goldenes Licht. Schon die Einstiegsszene des Stücks “In 80 Tagen um die Welt” ist ein starkes Bild.

Es folgen etliche weitere im mehr als dreieinhalbstündigen Parforceritt durch den ehemaligen Hauptsitz der Deutz AG, mit dem AnjaKolacek und Marc Leßle alias “raum13” ihre Trilogie “Schönheit der Vergänglichkeit #3-#1 – Das Werk” vervollständigen.

Über die gesamte Spielzeit wird das Stück weiterentwickelt, keine Vorstellung soll der anderen gleichen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Sparten wie Theater, Tanz, Performance, Musik und Medien aufzubrechen und ihr Publikum in die Inszenierung mit einzubeziehen, ist das Steckenpferd des Künstlerpaares. Dieser Anspruch funktioniert ebenso gut wie das perfekte Zusammenspiel des Bühnenbildners und Lichtgestalters und der Regisseurin und Choreografin. Gemeinsam leiten sie die in einzelne Reisegruppen aufgeteilten Zuschauer durch etliche Winkel des rund 5000 Quadratmeter großen Geländes, in eine der alten Fabrikhallen etwa, wo zerfledderte, aufgequollene Ordner von der Decke baumeln und ein Wasserfall in die Tiefe strömt. In den Katakomben der weltweit ersten Gasmotorenfabrik räkelt sich eine Tänzerin lasziv im ehemaligen Duschraum dessen Kacheln in grellbuntes Licht getaucht sind. Einzeln schreiten die Reisenden durch dunkle Flure, von denen aus geöffnete Türen surreal-träumerische Einblicke in die ehemaligen Büros gewähren. Lebendige Diskussionen zwischen den erfrischend aparten Profi- und Laiendarstellerinnen über das Für und Wider der technischen Revolution machen das unbändige Staunen fast greifbar: Durch die Motorisierung eröffnete sich für die Menschen erstmals die Möglichkeit, die Welt zu entdecken, angelehnt an Jules Vernes Roman sogar in nur 80 Tagen. Spannend geraten da bei die verschiedenen Perspektiven, die “raum13” aufzeigt. – Dass die Künstler stets auf Bewertungen verzichten und lediglich bei der Einordnung helfen, lässt genügend Raum für eigene Gedanken. Streckenweise geht die anspruchsvolle Inszenierung bis an die Schmerzgrenze, während uns die Kühle der alten Gemäuer erfrischt. (Katharina Hamacher | Kölnische Rundschau)

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