von: Elsa Weiland // Es gibt sie noch – die Visionäre. Die, die mitgestalten und ihre Visionen in die Tat umsetzen – 1.03.2016
Es gibt sie noch – die Visionäre. Die, die mitgestalten und ihre Visionen in die Tat umsetzen. Die, die Räume dem statischen Stillstand entziehen und in Bewegung halten. Sie sind in der Lage einen Ort zu schaffen, der atmet, einen Ort der Magie, des Sehens, des In-Bann-genommen-Werdens, einen Ort des Dialoges. Wer einen solchen Ort sucht, findet ihn im raum13. Dabei ist dieses Konzept keineswegs nur auf die physischen Eigenschaften eines Raumes beschränkt, sondern steht für einen experimentellen Ort, an dem Neues entsteht: Ein Raum der Entwicklung und Inspiration, ein Raum für die Gesellschaft und die Diskussion über politische und soziale Geschehnisse. Den Zuschauer erwartet eine Synthese von Schauspiel, Performance, Tanz, Musik, Architektur und bildender Kunst.
ZWISCHEN WELTUNTERNEHMEN UND KUNSTRAUM
Seit 2011 befindet sich die Basisstation des im Jahr 2007 gegründeten Kunstprojekts raum13 Kolacek&Leßle auf der Chaussee zwischen Deutz und Mülheim, auf dem Gelände der ehemaligen Klöckner-Humbold-Deutz-Werke. Der Ort, an dem vor über 150 Jahren die erste Gasmotorenfabrik der Welt entstand. Die Industrialisierung 1.0 machte es möglich. Die KHD beschäftigte zu ihren besten Zeiten 33.000 Mitarbeiter und war ein Weltunternehmen, in dem die Belegschaft jedoch gelebt hat wie in einer Familie: „Uns Firma – das war unsere Identifikation“. Tummelndes Leben, Menschen verschiedenster Herkunft versammelten sich an diesem Ort und arbeiteten in Hochkonjunktur – 18 Stunden jeden Tag. Wie man so schön in Köln sagt: Es fluppte, und wenn das fluppt, dann ist das positiv. Doch all das gehört nun der Vergangenheit an. Alles Leben verließ die riesigen Fabrikhallen und Büroräume endgültig im Jahr 2005, nachdem die KHD so herbe Verluste hinnehmen musste, dass sie diesen Standort aufgab. Doch vor knapp fünf Jahren wurden Anja Kolacek und Marc Leßle auf diese fantastischen Räumlichkeiten aufmerksam und annektierten sie mit der raum13-Flagge auf dem Dach: Die Geburtsstunde des Deutzer Zentralwerks der Schönen Künste.
8000 QUADRATMETER BÜHNE
Zu diesem Zeitpunkt herrschte dort schieres Chaos. Einige Jahre hatten die 8000 Quadratmeter leer gestanden und wurden zuerst auf der Suche nach verwertbarem Material geplündert, dann kamen die Party-People und versuchten ihrerseits den Raum zu vereinnahmen, die Zerstörung setzte sich ungehindert fort. Mitten in Köln entstand ein Ort, an dem scheinbar die Zeit still stand, oder durch den immensen Verfall und die Rückeroberung der Natur über die Gebäude fast rückwärts zu laufen schien. Seitdem hat sich viel verändert: Aus einer verwüsteten Brache ohne Wasser- und Stromanschlüsse entstand eine einzigartige 8000 Quadratmeter große Bühne, die sich seither in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung befindet.
KUNSTARCHÄOLOGIE
Doch bedeutet dies nicht, den alten Raum in seiner Geschichtlichkeit zu übergehen. Nein, ganz im Gegenteil: Die Geschichte soll Schicht für Schicht aufgedeckt werden. Es entsteht eine Synthese aus dem, was schon vorhanden ist, und einer künstlerischen Arbeit, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, all diese Dinge aufzuarbeiten, zu begreifen, in neue Kontexte zu setzen und mit aktuellen Themen zu verknüpfen. Dies kann man beispielsweise in der aktuellen Produktion „Schönheit der Vergänglichkeit #3 – #1“ erleben, in der die ZuschauerInnen durch die Räumlichkeiten der KHD-Hallen geführt werden und an verschiedenen Stationen die revolutionären, noch in den Kinderschuhen steckenden Entwürfe für ein Automobil von Carl Benz neben den abgeklärten Vorstellungen des Innovationsmarktes von Steve Jobs stehen sehen. Rosa Luxemburgs feurige Reden gegen Deutschlands Weltpolitik können dem einen oder anderen aus aktuellen Bundestagsreden bekannt vorkommen, und lassen nicht lange auf andere politische Statements von Ursula von der Leyen oder Joschka Fischer warten.
GLEICHBERECHTIGT: THEATER, PERFORMANCE, TANZ, MUSIK UND BILDENDE KUNST
Die Stückentwicklung gestaltet sich den ungewöhnlichen Räumlichkeiten entsprechend sehr frei; mit der Abkehr von der klassischen Theaterbühne verlieren auch klassische Theatertexte ihren Geltungsanspruch. Mittel des Theaters stehen gleichberechtigt neben Performance, Tanz, Musik und bildender Kunst. Durch die unbeschränkte Wahl der künstlerischen Mittel sind der Ideen- und Formatentwicklung keinerlei Grenzen gesetzt. Zusammen mit Schauspielern, Tänzern, Musikern und bildenden Künstlern wird ein umfangreicher Recherche- und Probeprozess betrieben, der sich nach und nach einer Fragestellung annähert. Sowohl Texte, Musik, Bewegungen und Raum entwickeln sich bei der Ideenfindung mit. Es wird experimentell getestet, was funktioniert und was nicht. Doch diese Stückentwicklung bleibt keinesfalls hinter dicken Mauern im Verborgenen, nein, das Publikum erhält die Möglichkeit, vielerlei Einblicke in aktuelle Entwicklungen zu gewinnen und kann dank Interviews und Gesprächen Impulse und Ideen mit einbringen. So wurden beispielsweise für „Schönheit der Vergänglichkeit #3 #1“ Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Angestellten der KHD geführt, um zu erfahren, welche Menschen früher in diesem Unternehmen gearbeitet haben. Diese sind als Videoinstallation oder auch als Textgrundlage einiger Szenen der Produktion verwendet worden.
Es entsteht ein Raum, der Dialog ist. Dialog zwischen der Geschichte und der Gegenwart, der Gesellschaft und dem Individuum. Zwischen Künstlern und Publikum und mit dem eigenen Selbst. So offen, so scharf, so magisch, kritisch und klar, gestaltet sich ein einzigartiges Kunstprojekt, das nicht lange braucht, um die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen und zu verzaubern.
JETZT IST ZEIT!